
Es rauscht und klingt
40 Jahre Kinder- und Jugendbuchmesse
"Es gehört schon eine ganze Portion innerer Gelassenheit dazu, sich aus der Fülle von ein paar tausend Büchern die Lieblingslektüre herauszuangeln, unter den Arm zu klemmen und damit in der ´Schmökerecke` zu verschwinden, um dort ernsthaft und versunken zu lesen: In der Aula der Cäcilienschule, wo zur Zeit die 1. Oldenburger Kinder- und Jugendbuchmesse um den Nachwuchs der Literatur-Konsumenten wirbt, herrscht lebhafter Trubel."
1975 war’s. Ein Oktober. Und ganz genau so hatte es damals in der NWZ geheißen. Der Reporter berichtete von Werken für Ein- bis Dreijährige, die “so hinreißend illustriert sind, dass viele Erwachsene sie sich am liebsten selbst in den Bücherschrank stellen möchten”, schreibt darin über “Knaben mit Stimmbruch”, die sich albernd auf den Turnhallen-Matten räkeln und “astreine Schinken” in die Runde reichen.
Viele feine Schmankerl haben die Zeiten überdauert, sind glücklicherweise bis heute bewahrt und werden nicht minder zelebriert. Ein Umstand, den die Messe quasi sich selbst zu verdanken hat. Keine bunten Feuerwerke um Mitternacht, keinen lockenden Sidekick namens Justin Bieber. Nur Buchstaben. Bücher. Mit vielen Seiten und noch mehr phantastischen Geschichten. Und die jungen Leute lieben es. Trotzdem!
2500 deutschsprachige Neuerscheinungen - pro Jahr
Rund 60.000 Bücher hat die heute einschlägig bedeutsame Kinder- und Jugendbuchmesse (kurz: Kibum) im Laufe ihres Erwachsenwerdens in Oldenburg vorgestellt. Etwa 700 bis 900 Titel - die statistischen Zahlen schwanken da je nach Verfasser - verführten schon vor 40 Jahren rund 10.000 Menschen zum Besuch - und das trotz “Widerstands des örtlichen Buchhandels”, wie sie damals monierten. Kaum zu glauben. Offenbar fürchtete man die ungefilterte Masse einer nichtkommerziellen Messe, zu der die Verlage kostenlos ihre Bücher einsenden - gleichgültig, ob Schundliteratur, Neuerscheinungen oder Neuauflagen. Glücklicherweise lagen die Kritiker damals falsch, wie die jüngsten Zahlen beweisen: Im Jahr 2014 kamen mehr als dreimal so viele kleine und größere Gäste, um sich durch die gleich 2500 deutschsprachigen Neuerscheinungen aus 300 Verlagen zu lesen.
Ähnliche Zahlen werden auch bei der 41. Auflage - vom 7. bis 17. November 2015 - erwartet. Im und rund ums Kulturzentrum PFL an der Peterstraße kommen dann wieder die wohl härtesten aller Literaturkritiker zusammen. Dann ignorieren sie, was schon äußerlich nicht zusagt. Legen zur Seite, wo ihnen bereits das Inhaltsverzeichnis jegliche Laune verdirbt. Haben die jungen Bestimmer aber erstmal ein Büchlein gefunden, dem sie ihr Wohlwollen möglicherweise schenken könnten ... dann geht’s in die Schmökerecke. Und allüberall ist fortan Stille.
Die Kraft des Kinder- und Jugendbuchpreises
Diese Hingabe der Jüngsten und Jüngeren, diese Hinfortträumleserei in fremde Welten und Gedanken - sie ist es, die zahlreiche Nachwuchsautoren Jahr um Jahr ihre Hoffnungen in einen Umschlag packen und gen Oldenburg senden lässt. Überdies enthalten: ihr Erstlingswerk in diesem Segment. Bestehend also aus niedlichen Feen und bösen Biestern, traurigen Erinnerungen wie zauberschönen Phantastereien - und damit vermeintlich völlig unpolitischen Themengebieten. Tatsächlich war es aber die Politik, die damals entscheidend ins Messekonzept eingriff und ihm so etwas verpasste, was bis heute für zusätzliche Beachtung sorgt: den Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis.
Im Januar 1977 schlug die SPD-Ratsfraktion vor, jährlich einen entsprechenden Preis in Höhe von 10.000 D-Mark auszuschreiben - jeweils für die besten Erstlingswerke und gleichermaßen hoffnungsvolle Talente. Keine zwei Monate später war es dann auch beschlossene Sache - im Mai wurde bundesweit zum Wettbewerb aufgerufen. Schlussendlich zählte das Kulturdezernat beachtliche 101 Einsendungen. Darunter Titel wie “Das Wildschwein Edeltraut und der Waldspecht Gandalf”, “Der Elefant im Butterfass” oder “Hans Hemd trägt immer nur ein Hemd”.
Damals galt das Hauptinteresse der selbst schreibenden Einsender möglicherweise noch dem schnöden Mammon, die Verlage indes entsandten ihre eigenen Vorschläge, um so den Bekanntheitsgrad wie nicht zuletzt die Verkaufszahlen zu steigern.
“Ganz ehrlich? Ich war selbst überrascht und wusste nicht, dass mein Verlag mich damals beworben hat”, sagt Leonie Ossowski mit dem Rückhalt aus über zwei Dutzend erfolgreichen Veröffentlichungen in ihrer Karriere. Im Jahr 1977 wurde sie mit ihrem nüchtern-brachialen Jugendroman “Die große Flatter” zur ersten Preisträgerin und Gewinnerin von immerhin 5000 Euro. Den Rest teilten sich damals Hanni Schaaf (“Plötzlich war es geschehen”) und Dietlof Reiche (“Der Bleisiegelfälscher”). Während Letzteres durchaus so etwas wie ein Klassiker wurde, bedeutete “Die große Flatter” für Ossowski doch den großen Durchbruch. Ein Jugendbuch zwar, aber für die Autorin ist “jeder Vierzehnjährige - literarisch gesehen - ein Erwachsener”, hieß es ihrerzeit in der Begründung der Jury.
Man hätte nicht die Absicht gehabt, “die Landschaft der nationalen Kulturpreise um ein weiteres Stück zu vergrößern”, sagte der damalige Oberbürgermeister Hans Fleischer bei der Preisverleihung, vielmehr verfolgte man den Zweck, “einen ehrlichen Beitrag zur Literaturförderung zu leisten.” Und das war der fünfköpfigen Jury (darunter die Schülerin Ute Petershagen und Pädagoge Hans Bödecker) mit ihrer Entscheidung allemal geglückt. Ossowskis Jugendbuch war anders als die anderen. Darauf hatte man viel Wert gelegt. Schließlich dürfe Kinder- und Jugendliteratur nicht “gemacht werden für die verständlichen und wundersamen Wunschträume Erwachsener”, hieß es damals. Und: “Statt die Urteilskraft und Phantasie junger Leser ungebeten zu verwalten, sollten Autoren so schreiben, dass sie deren Vermögen zu erfassen, zu differenzieren und zu entscheiden, weckten und verfeinerten.”
Ossowski hatte in ihrem Roman heranwachsenden Menschen eine Wirklichkeit ohne Retusche verpasst. Kein Glitzer, keine Ponyhofidylle. Sie hatte im Winter 1977 den Abschied “vom bequemen Traum der Insel Marzipan” ausgerufen. Ist das noch ein Kinderbuch? Ist es. Und so ungeheuer wichtig, findet die Berlinerin noch immer. Phantastisches und Nüchternes - beides bräuchten Kinder und Jugendliche, um ihre Kreativität am Leben zu erhalten, sagt sie: “Wenn ein Thema gut gebaut ist, dann wird ein Kind neugierig auf bestimmte Dinge, die will es weiterverfolgen.”
In Zeiten von Smartphones und TV-Dauerberieselung seien Kinder ausgelastet. “Das ist das Furchtbare”, sagt Ossowski mit klarem Blick und markigen Worten im exklusiven NWZ-Interview, “ich sehe es ja an meiner Familie - glauben Sie mal nicht, dass meine zwölf Enkel meine Bücher gelesen haben!”
Trotz der großen Veränderungen in der Medienlandschaft und damit einem veränderten Konsumverhalten der Kinder und Jugendlichen: Es gibt sie noch. Schriftsteller und Autoren, die gerade diese Zielgruppe faszinieren und begeistern, bewegen und berühren wollen. Bester Beleg dafür ist die Kibum Oldenburg und auch die nach wie vor alljährliche Verleihung des hiesigen Kinder- und Jugendbuchpreises - gleich 244 Arbeiten (150 Manuskripte, 94 Bücher) wurden zur aktuellen Auflage eingereicht, drei von ihnen haben es in die finale Nominierungsrunde geschafft: Juliette Favre aus Dresden mit “Fuckfish”, Florian Wacker aus Frankfurt am Main mit “Dahlenberger” und Mehrnousch Zaeri-Esfahani aus Karlsruhe mit ihrem Kinderbuch-Manuskript “Das Mondmädchen”.
Am 9. November (Montag) wird der Preis - dotiert mit 7600 Euro - im Oldenburger Horst-Janssen-Museum vergeben. Was sich für den oder die Gewinner (der Preis kann auch aufgeteilt werden) in der Folge ergeben wird, ist ungewiss. Gut möglich aber, dass sich noch weitere Preise anschließen. Was die Kibum hervorbringt, hat ja bekanntlich Qualität: Mirjam Pressler beispielsweise, die nach dem Oldenburger noch mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis, dem Friedrich-Bödecker-Preis, dem Deutschen Bücherpreis und vielen vielen weiteren bedeutenden Auszeichnungen geehrt wurde. Oder Illustrator Nikolaus Heidelbach - seine Vita liest sich ebenso beeindruckend: Troisdorfer Bilderbuchpreis, Kinderbuchpreis NRW, Eulenspiegelpreis, Deutscher Jugendliteraturpreis, Rattenfänger-Literaturpreis und weitere.
Natürlich ist vieles Ausgezeichnete sehr gut - für Kinder wie Erwachsene, für Konsumenten wie Genießer. Aber das gilt nun mal sicher auch für einen Großteil jener anderen Werke, die ab diesem Sonnabend in den Kibum-Regalen stehen und noch ein wenig auf ihre Entdeckung warten müssen: Das sind diesmal 609 Bilderbücher, 191 Titel im Bereich Sachbilderbuch.
543 Werke für die Altersgruppe der Sechs- bis Neunjährigen, 370 für die Zehn- bis Zwölfjährigen und 285 für die Altersgruppe ab 13 Jahren. Hinzu kommen noch summa summarum 413 Sachbücher und gleich 63 Ratgeber für Eltern, Erzieherinnen und Erzieher. “Plus prämierter und in Nominierungslisten aufgenommener Medien wie Kindersoftware oder Hörbücher, Edutainment, Lernangebote, Apps und Hörspiele”, so Regina Peters, die für die Messe verantwortlich zeichnet und sie mit reichlich Herzblut vorbereitet.
Kibum klingt!
So viele neue Medien, so viele neue Eindrücke, die allesamt die Phantasie auf ganz unterschiedlichen Wegen anregen. Aus eben diesem Grunde rauscht es schon lang nicht mehr nur im Blätterwald der Kibum, nun klingt und klopft und pfeift es auch noch. Aus allen Regalen.
“Checkpoint Kibum”, “Ni Hao - Kibum trifft China”, “Kibum ist phantastisch”, Plattdeutsches zum 100. Geburtstag von August Hinrichs und so weiter und so fort - das Thema und die Sonderausstellungen der Messe wechseln jährlich. Für 2015 haben sie hier mit dem Motto “Kibum klingt” einen Schwerpunkt gesetzt, den es in dieser Form und in dieser multisensorischen Intensität wohl noch nicht zuvor gab. Was aber nicht bedeutet, dass nur noch iPod-Stationen und CD-Player im Kulturzentrum ausgestellt werden. Um es mit den Worten eines berühmten Klang-Dichters zu sagen:
Das mutet zwar komisch an, Erwin Grosche meint es aber völlig ernst: Im Vorfeld der Messe hat der Kabarettist, Musiker und Autor bereits mit vier Oldenburger Grundschulen eindrucksvoll bestätigt, wie wertvoll und nachhaltig Rhythmus fürs eigene Sprachverständnis und -entdecken zu sein vermag. Das Ergebnis heißt “Klingklangvolles”.
In diesem Begleitbuch zur Messe wurden die Kinder selbst zu Dichtern - dies allerdings nicht in aller Stille vor dem heimischen Blatt Papier, sondern in großer Runde klatschend, trommelnd und flötend. So bejubelten sie also den “Fi-Fa-Fisch”, machten “Klik klak kluk” und zelebrieren Cosimas riesige “Fliflaflipflapflügel”. Herausgekommen ist damit zwar ein normales Lesebuch mit hübschen Illustrationen von Andrey Gradetchliev – dessen ganz eigener sprachlicher Rhythmus aber in Kopf und Körper nachwirkt.
Es ist nicht nur eine musikalische Spielerei, die da vom eigentlichen literarischen Sinne ablenken könnte. Es ist vielmehr eine Unterstützung, eine Hilfe. Auch für die eigene Sprachentwicklung und das bewusste Hören. Der Rhythmus der Sprache verführt und lässt schwierige Sequenzen sehr viel schneller lernen und verstehen. Das heißt im übertragenen, aber auch wörtlichen Sinn: Es kommt gut an.
Kein Wunder also, dass auch die “Forschungsstelle Kinder- und Jugendliteratur” der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg die Kibum nach wie vor unterstützt - nicht nur aus ihr lernt, sondern sie auch ganz aktiv, beispielsweise durch Publikationen, aber auch mit dem interdisziplinären öffentlichen Symposium “farb klang reim rhythmus - Kinder und Jugendliteratur intermedial” begleitet. Hier soll dann auch der tatsächliche Stellenwert von Musik im und zum Bilderbuch geklärt werden.
Musik spielt zweifellos eine besondere Rolle bei dieser Messe, nicht ohne Grund hat man Liedermacher und Autor Heinz Rudolf Kunze als Schirmherrn und Gast der Veranstaltung gewinnen können. „Lesen ist seit meiner frühen Kindheit eine meiner wichtigsten Inspirationsquellen”, sagt der Rockpoet. “Lesen, der regelmäßige Umgang mit dichterisch geformter Sprache, erschließt auf einzigartige Weise die Welt: Klänge, Farben, Bilder entstehen dann im eigenen Kopf, man wird zu einem kleinen Schöpfer.“
Kunze selbst wird bei der Kibum dann auch gleich mal “Quentin Qualle” vorstellen - nicht nur als Ideengeber zum Bilderbuch, sondern vor allem als Vertoner des guten Stücks. Gemeinsam mit Autor und Musiker Jens Carstens, der Illustratorin Julia Ginsbach und Gastmusiker Jens Wrede (aber auch der eigenen Qualle-Band) lässt er so am Sonntag, 15. November, auf der Bühne ein Live-Hörspiel entstehen, “das die Zuhörer in die bunten Unterwasserwelten von Quentin Qualle entführt”, wie es in der Ankündigung heißt. Schlecht für alle Fans: Das Konzert ist schon lang restlos ausverkauft. Gut aber: am gleichen Tag besucht Kunze von 11 bis 12 Uhr die Messe, gegen 11.30 Uhr wird er auf der PFL-Bühne ein paar Lieder für alle Besucher spielen und steht dann auch noch für Autogramme parat.
Weitere musikalische Schönigkeiten folgen. Die Oldenburger Klanghelden beispielsweise haben sich mit professioneller Unterstützung einmal quer durch die Lyrik gerappt. Da hiphopt Fontanes Herr von Ribbeck auf Ribbeck quer durchs Havelland, düstert Goethes Erlkönig umher, fragt Fried nach „Was es ist“ und lässt Fallerslebens Gedanken frei fliehen. Laut, dröhnend, nachhaltig. „Rap ist rhythm and poetry“, sagt Daniel Schneider, besser bekannt als “MC Schneider” und in dieser Rolle auch freier Dozent für künstlerisch-kulturelle Bildung. Bildung und Rap - das mag zunächst doch sehr themenfremd wirken.
Hört man dann aber die jungen Sängerinnen und Sänger schwärmen - “Durch das Verrappen kriegt man einen anderen Blick auf die Gedichte”, sagt beispielsweise Klangheld Julian Mönnich und ein anderer: “Man lernt sie viel schneller auswendig” -, dann wird schon klarer, weshalb Rhythmus in Kopf und Sprache von Bedeutung sein kann. Wer sich selbst davon überzeugen mag, aber keine Karten für die Konzerte der Oldenburger Stimmen ergattert hat, kann trotzdem tags drauf mitreden: Eigens zur Kibum haben die Klanghelden eine CD kreiert. “Rap-Poesie” heißt die und ist noch bis zum 30. November zu bekommen. Mindestens.
Weitere musikalische Autorenlesungen und literarische Konzerte schließen sich in den kommenden Tagen an. Musik von Kinderliedermachern, auch klassische Musik für die Jüngsten. Antje Vogel, Fredrik Vahle, Robert Metcalf, Axel Brüggemann, Bettina Göschl, Rudolf Herfurtner und wie die still verehrten Autoren und Illustratoren der Jetzt-Zeit alle heißen. Dazu Wörter zum Wippen, Sätze zum Schunkeln, Literatur zum Launemachen. Kurios, dass es so viele Jahrzehnte brauchte, die Messe derart zu musikalisieren. Schließlich klingt allein der Titel “KIBUM” ja schon wie das rhythmisch tragende Element eines großartigen Songs ...
Als die Messe Mitte der 70-er Jahre konzipiert wurde und aus einem “Politischen Frühschoppen” der Volkshochschule Oldenburg im Jahr 1974 hervorging, hätten die Gründer wohl kaum gedacht, wie und dass sich diese noch bis ins Jahr 2015 derart facettenreich entwickeln könnte.
“Welche Bücher soll man Kindern schenken?” - so lautete die Fragestellung zum Novemberthema des damaligen Frühschoppens. Professor Dr. Wolfgang Promies - seinerzeit Prorektor der Uni Oldenburg (2002 verstorben) - referierte hier auf Einladung, sah sich schließlich aber auch mit den Wünschen der anwesenden Eltern konfrontiert, doch einmal eine Kinderbuchausstellung zu organisieren, über die sich die Bevölkerung besser informieren könne.
Promies willigte ein.
Ein Jahr später hatten Uni, Stadt und VHS im Schulterschluss die erste Veranstaltung ihrer Art auf die Beine gestellt. Allerdings vielleicht dann doch ein klitzekleines bisschen anders, als es sich die Eltern dereinst gewünscht hatten.
“Sinn der Ausstellung, die jährlich stattfinden soll, ist es, Kinder, Jugendliche und Erwachsene - Eltern, Erzieher, Studenten - zu informieren und zu beraten”, hatte Mitinitiator Promies vor der Eröffnung der ersten Messe erklärt. Das klang sehr theoretisch. Was Promies dann aber noch als immerwährenden Anker der Kibum auswarf, ist in der Rückschau umso wertvoller: “Das Kind, der Jugendliche, sind nicht Objekt, sondern Subjekt der geplanten Ausstellung”, sagte er, “sie sollen lesen, was sie wollen, nicht was Eltern und dergleichen Kinderfreunde für gut oder ein Erzieher für unterrichtsfördernd befunden haben.” Sprich: Auf eine etwaige “Gängelei” der jungen Besucher verzichtete man ausdrücklich. Allerdings mühte man sich stets, erwachsene Besucher mit Infoveranstaltungen und Ausstellungen zu begleiten, ihnen so ein eigenes Urteil über die Qualität der gezeigten Bücher zu ermöglichen.
Dr. Ekkehard Seeber, der 1976 als Oldenburger Kulturdezernent einstieg und fortan ein gewichtiges Wörtchen bei der Kibum mitzureden hatte, wollte an dieser Ausrichtung freilich nichts ändern. Im Gegenteil. “Eine völlig unzensierte und nicht kommerzielle Messe - das war es doch, was wir alle wollten”, sagt er, “und diesen Reiz des unbeobachteten Lesenkönnens - wo weder Oma, noch Vater oder Lehrer dies verbieten -, und so viel Offenheit für die eigene Urteilsbildung - das hat sie sich auch bis heute erhalten.”
Wenngleich auch unter gänzlich anderen Rahmenbedingungen. Diese Messe wollte sein Vorgänger Möller noch möglichst klein gehalten wissen, “damit es kein Reinfall wird - erweitern kann man die Sache immer noch”. Danach aber konnte jeglicher Ausbremsversuch nur fehlschlagen. Die Messe wurde zum Selbstläufer, entwickelte sich aus sich selbst heraus. Deshalb wurde auch der Plan, die Kibum durch alle Stadtteile Oldenburgs wandern zu lassen, rasch ad acta gelegt. Alle potentiellen Räumlichkeiten wären schlicht zu klein gewesen.
Schon bei der zweiten Auflage waren es 1150 Bücher aus 94 Verlagen, die in der Cäcilienschule vorgestellt wurden - und die lockten dann auch gleich 16.000 Besucher in nur einer Woche. Das wiederum animierte die Macher, für 1977 eine zweiwöchige Messe in Aussicht zu stellen. Sie verzichteten dann zwar doch auf die Verlängerung - verzeichneten im Folgejahr allerdings auch wieder weniger Besucher. Ob es möglicherweise mit den zähen Eröffnungsveranstaltungen zusammenhing, bei denen stets vermeintlich wichtige Sponsoren und Veranstalter vermeintlich wichtige Reden halten und ihre Nasen zeigen mussten?
Zumindest gab es in diesem Jahr einen einschneidenden Moment, der Seeber und Co. das Konzept umwerfen ließ. Er hatte den dreikäsehohen Sohnemann mit zur Eröffnung genommen - doch all die vielen unverständlichen Worte da oben ermüdeten den jungen Mann sogleich und nahmen ihm jeglichen Spaß. Also ließ er mit der Begründung „langweilig!“ eine kleine Rakete mit Zündplättchen fallen – was zunächst für einen lauten Knall und allgemeinen Schrecken, schließlich aber auch für ein Umdenken sorgte: Seit quasi diesem Moment ist die Messe-Eröffnung deutlich kindgerechter und spannender ausgerichtet – mit Programm, Tamtam wie Promis. Ein echter Anreiz also, die folgenden pickepackevollen Tage für Besuche zu nutzen. Und davon gibt es zweifellos mehr als genug.
1980 empfingen sie hier über 30.000 Besucher. Und Seeber verkündete nahezu Jahr um Jahr “die erfolgreichste Messe seit Bestehen”. Zwanzig Jahre später gab es dann aber tatsächlich mit 40.000 Besuchern den nächsten runden Meilenstein zu vermelden.
Klar, dass die Kibum da schon früh und bundesweit für Aufmerksamkeit sorgte. Sicherlich wegen des enormen Zulaufs, aber ganz bestimmt auch, weil Seeber damals neben aller Leidenschaft fürs Thema auch reichlich Kalkül bewies.
“Wir haben uns damals gefragt, wie wir eine solche Provinzmesse, die außerhalb Oldenburgs kaum einer kennt, dazu bringen, dass sich auch die überregionale Presse dafür interessiert”, sagt er heute. Die Losung war simpel. Für die Jury des Kinder- und Jugendbuchpreises installierte man nicht nur Pädagogen, Professoren, Schriftsteller und eine Schülerin, sondern holte sich kurzerhand mit Ute Blaich (2004 verstorben) auch die Literaturkritikerin der “Zeit” dazu. “Das war erste Sahne - und ganz bewusst so gewählt”, so Ekkehard Seeber. 1999, zur Jubiläumsveranstaltung, konnte er dann gar nicht mehr anders als die Kibum zum “geradezu unglaublichen Paradepferd Oldenburgs” zu ernennen. “Aus meiner Sicht ist die Kibum eine kulturpolitische Dauerleistung [...], mit auch national erheblichem Gewicht.”
Nicht schlecht für eine Messe, für die in den ersten Jahren überflüssige Tische aus allen Oldenburger Schulen kurzfristig zusammengekarrt und zentral aufgebaut, schließlich mit Wachstüchern belegt wurden - “damit man die Einkerbungen verzweifelter Schüler darauf nicht sehen konnte”, sagt Seeber heute. 1991 wurde dann für 135.000 D-Mark echtes Messemobiliar angeschafft, 1992 folgte der Umzug von der Cäcilienschule ins deutlich größere und neue städtische Kulturzentrum PFL.
Die Sinnfrage der Neuen Medien
Trotz der räumlichen Veränderung: Ein Jahr vor Volljährigkeit der Messe waren die Kinderschuhe längst viel zu klein geworden. Grund waren vor allem die Neuen Medien. Schallplatten und Kassetten hatten in den 70er und 80er Jahren immer mehr Kinder in ihren Bann gezogen, irgendwann tauchten Videorecorder auf, nun kamen plötzlich Computer ins Spiel. Und sie stellten die Macher vor existentielle Fragen. Sollte man audiovisuellen und elektronischen Medien eine Chance geben, das klassische Buch auf einer Buchmesse zu verdrängen?
Seeber erinnert sich da an eine “lustige Geschichte”, die letztlich das Votum pro Medienvielfalt entschied: “Wir hatten damals zwei Räume mit Computern und Spielen eingerichtet. Als ein Apparat abstürzte, hatten Dr. Rainer Fabian von der Uni Oldenburg und ich versucht, das wieder hinzubekommen.“ Was aber nicht glückte. Zwei Zehnjährige hatten sich das Spektakel amüsiert angeschaut, sagt er, – und nach einigen peinlichen Momenten dann auch ein Einsehen mit den älteren Herrn. „Soll ich dir das zeigen? – fragte einer der Jungs“, sagt Seeber, „und dann lief das Ding nach zwei Minuten wieder.“ Das habe den Verantwortlichen damals gezeigt, dass junge Leute doch völlig anders, ja selbstverständlich, mit den neuen Medien umgingen als die Erwachsenen.
Also hielt die Elektronik Einzug bei der Kibum. Nicht ganz unproblematisch. Es wurde engagiert über einen Umzug in die Weser-Ems-Hallen diskutiert. “Die Kibum konnte ja nicht zugleich eine kleine Frankfurter Buchmesse für Kinder und Jugendliche - und eine kleine Cebit sein - und das alles noch im PFL.” Was man heute weiß: Die Idee der Messe in den Messehallen zerschlug sich, vor allem, weil man keine Großsponsoren für eine derartige Kommerzialisierung finden konnte, vielleicht ja auch nicht wollte. Was man nicht weiß: Wie hätte sich die Messe verändert, wenn doch ein solcher Messeteil “Neue Medien” mit entsprechenden Flächen gegründet und finanziert worden wäre? Was wäre aus der Kibum geworden? Was aus den hehren Ideen?
Seebers eindringliche Worte in der Jubiläumsfestschrift klingen da bis heute nach: “Die Kibum muss wählen, entweder immer größer, neuer und teurer zu werden oder sich entsprechend einem Goethe-Ausspruch zu verhalten: In der Beschränkung zeigt sich der Meister.”
Immerhin zehn Rechner, vollgepackt mit aktuellen Simulations- und Spaßspielen, sowie zwei iPads mit 17 Bezahl-Apps können diesmal im Mediensaal des PFL von den Besuchern genutzt und ausprobiert werden. Das ist eine überschaubare Zahl - deswegen bleiben pro Daddel-Durchgang zumeist auch nur zehn bis fünfzehn Minuten, damit alle Kinder mal ran dürfen. Kostenfrei, natürlich. Wie alles bei der Kibum. Zumindest für die Besucher.
Für die Macher ist die Messe indes kein Schnäppchen. Von den anfangs 9000 D-Mark, die der mehrtägige Lesespaß 1975 kostete, ist man heute weit entfernt. Eine kleine bis mittlere sechsstellige Summe muss man da schon mal für eine Neuauflage in Personal, Energie, Deko und Organisation investieren. Nicht inbegriffen sind da die 2500 Bücher, die von den Verlagen kostenlos gen Oldenburg entsandt werden.
Die Skandälchen einer Jugendmesse
Geräuschlos blieb die Kibum nicht. Skandälchen gab es immer wieder mal, zumindest in- wie externe Aufreger. Da war beispielsweise gleich im zweiten Jahr der Messe das Berliner Aufklärungstheater “Rote Grütze”, in dem die Kinder auf die Suche “nach anderen Worten für Muschi und Pimmel gingen”, notierte die Presse einst. “Die Liste der Denkergebnisse war sehenswert: Da fielen Sparbüchse, Loch und Reißverschluß ebenso wie Gurke, Steckrübe und Schlüssel.” Peinlichst berührte und moralisch gefestigte Eltern, die auf diese Weise “seelische Entkrampfungskuren” durchgemacht hätten.
Dann war da aber auch der überraschende Protest - heute würde man wohl “Flashmob” sagen - eines guten Dutzends Atomgegnern, das 1982 ganz in Weiß gewandet und teils mit Gasmasken ausgerüstet die Preisverleihung stürmte und “zu einem Lied anhob über die Vorkehrungen bei Reaktorunfällen”. Kann man so machen, war in diesem Jahr aber besonders nachwirkend, weil die Jury das thematisch gebundene Buch “Bei Hamburg leichter Niederschlag” von Heinz Knappes ausgezeichnet hatte. Aus Protest gegen den Protest während der Feierstunde verließen einige Ratsmitglieder die Veranstaltung.
Mitte der 80-er Jahre verschwanden 250 antiquarische Bücher aus Oldenburg, wertvolle Museumsstücke aus dem Bestand der Universität, auf dem Weg von Duisburg nach Bielefeld spurlos. Sie waren zuvor begleitend zur Messe im Stadtmuseum gezeigt, dann in andere Städte verliehen worden. Die Bücher waren zwar mit 40.000 D-Mark versichert, allerdings bezeichnete man den Verlust als besonders schmerzlich, “weil unter den Büchern auch 30 unersetzliche Leihgaben aus Privatbesitz” waren. Es schmerzte allerdings nicht allzu lang: Eineinhalb Monate später tauchten sie wieder auf, nachdem die Kriminalpolizei Duisburg die Metallcontainer in einer Schule fand...
Gegensätzliche “Ansichten darüber, wie ein Kinderbuch aussehen sollte”, waren der Grund, weshalb Ute Blaich schon im Jahr 1978 aus der Jury zum Kinder- und Jugendbuchpreis zurücktrat. Ein Paukenschlag. Sie hatte - im Gegensatz zum Rest der Jury - das von Wolfgang Fischbach illustrierte Bilderbuch “Vorgestern hat unser Hahn gewalzert” als für Kinder ungeeignet und damit nicht für preiswürdig befunden. Ausgezeichnet wurde es trotzdem. Ohne Blaich.
Gleich sechs Mal wurde in der Geschichte des Oldenburger Jugendbuchpreises dann tatsächlich kein Autor ausgezeichnet. 1988 und 1990, weil der Preis aufgrund der finanziell miserablen Lage der Stadt kurzerhand nur im zweijährlichen Rhythmus vergeben wurde (bis 1991). 1994 stellte sich heraus, dass der favorisierte Titel “Muscha” von Anja Tuckermann nicht ihr Erstlingswerk war, 1998 indes galt in der Begründung der damals eingesetzten Jury “kein Werk als literarisch oder bildnerisch so herausragend”. 2006 war es nicht anders. 2010 schließlich konnte der Preis aufgrund einer viel zu späten Haushaltsgenehmigung nicht ausgeschrieben werden.
Und dann war da noch dieses Gerücht, dessen Wahrheitsgehalt sich erst späterhin offenbarte: Im Jahr 2003 erhielt der bis dato unbekannte Potsdamer Jürgen Schott für sein Bilderbuch “Jo im roten Kleid” den Oldenburger Kinderbuchpreis. Dumm nur: Es handelte sich dabei um ein Pseudonym des Oldenburger Literaturexperten und Kunstprofessors Jens Thiele. Der wiederum gehörte selbst jahrelang der Jury an, hatte auch viele Sonderausstellungen begleitet. Da es sich nichtsdestotrotz um ein Erstlingswerk in diesem Segment handelte, wurde die Vergabe nicht revidiert. Thiele ging dann aber doch unter seinem richtigen Namen in die Preisträger-Historie ein, die Veranstalter zogen dennoch ihre Konsequenzen daraus, wie die NWZ berichtete.
Sei`s drum. Der eigentlich größte Skandal in der Historie aber wird möglicherweise für viele Kibum-Liebhaber das Ende des eher krude wirkenden “Viehs” gewesen sein.
Das Tier mit dem pferdeähnlichen Kopf und Schafbeinen, dazu einem geblümten Schweif, wurde 1975 geboren. Mit ihm warb die Stadt auf Plakaten und in Prospekten um Aufmerksamkeit - und das gelang ihr hervorragend. Die Oldenburger Grafikerin Karin Ritzel hatte das Fabelwesen erfunden. Mit seinem 25. Geburtstag, zum Jubiläum der Kibum 1999, verschwand es von den Plakaten. Aus den Köpfen der jungen Fans aber sicher bis heute nicht.
Zum Glück finden die aber immer wieder neue Helden - Doris Eisenburger zum Beispiel. Die Münchnerin hat das Veranstaltungsplakat zur Kibum 2015 illustriert, wird zur Messe selbst mit einer eigenen wunderschönen Ausstellung ihrer Werke (BBK-Galerie, Eröffnung am Sonntag, 8. November, 15 Uhr) vertreten sein. Mehr noch: Weil ein kurioser Zwischenfall während des Poststreiks den Versand ihres originalen Ausstellungsplakates verhinderte, fertigte sie noch ein “zweites Original” zur Messe an. Ein Novum - von dem nun aber zumindest die NWZ-Leser profitieren können. In einer exklusiven Online-Verlosung haben noch bis zum Donnerstag, 12. November 2015, alle Teilnehmer die Chance, dieses Unikat zu ergattern. Die Übergabe erfolgt noch während der Messe im Oldenburger Kulturzentrum PFL.
Wer an der Illustration kein Interesse, dafür aber um so mehr Lust auf die Kibum 2015 bekommen hat, findet unter diesem Link alle Termine zur diesjährigen Messe - Lesungen, Konzerte, Diskussionen, Vorträge und sehr viel mehr. Richtig los geht es am Sonnabend, 7. November, um 15 Uhr im großen Saal des Kulturzentrums an der Peterstraße mit einem Auftritt von Erwin Grosche und seinen Jung-Dichtern. Kurz und knapp, dafür aber mit reichlich spaßigem Programm - ganz so, wie es sich vor 37 Jahren ein Dreikäsehoch von seinem Papa gewünscht hatte.
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